Deutschland wird auch in der Pressekonferenz verteidigt!

Politikverdrossenheit, AfD-Auf- und SPD-Abstieg, Hass auf Europa. Man kann sich zurzeit drölftausend Kommentare, Blogbeiträge und Reportagen zu diesen Krisen und ihren Ursachen gönnen. Oder man kann sich die katastrophale Pressekonferenz von Angela Merkel und Sigmar Gabriel nach der Kabinettsklausur gestern in Meseberg anschauen.

Natürlich schaut kein Mensch Pressekonferenzen. Das wiederum hält gestandene Giganten wie Sigmar Gabriel – natürlich – nicht davon ab, das halbstündige Video davon auf Facebook zu posten. Hört man der Kanzlerin und ihrem Vize aber auch nur halbwegs aufmerksam zu, bekommt man ohrgerecht serviert, warum die Begeisterung für Europa in Europa gerade eher so lala ist und CDU und SPD keine Wurst mehr vom Teller ziehen. Und warum man der AfD genau damit den roten Teppich ausrollt.

Da man von niemandem verlangen kann, sich dreißig Minuten Pressekonferenz zu geben: hier das komplette Desaster in fünf beispielhaften Ausschnitten. (Zuerst dachte ich, es sei eine einschläfernde PK, doch was dann passierte, war unglaublich.)

Gabriel: „Ich werde ja auch immer wieder gefragt, was ist denn möglicherweise ein Ziel, was Menschen wieder von Europa begeistert. Ich glaube, junge Leute würden sich sehr für Europa begeistern, wenn Europa sagen würde: ‘Wir wollen im Jahr 2025 die weltweit beste digitale Infrastruktur haben und dafür unsere Kräfte bündeln.’“

Geil, Herr Wirtschaftsminister. So eine stramme „Think-big-and-see-the-big-picture“-Ansage reicht bestimmt, um in der Berliner Torstraße ein Start-Up für irgendwas mit Vegan Food und Dating gepflegt an die Wand zu fahren. Sie reicht aber zweifellos nicht, um Menschen für Europa zu begeistern. Neben dieser recht erfolgreichen Gründungsidee Europas, nämlich zu verhindern, dass sich der Staatenhaufen alle paar Jahre gegenseitig die Köpfe einschlägt, wirkt flüssiges Netflix-Streamen bzw. Unternehmengründen im Schwarzwald gar nicht mehr so „big“.
Richtig ist natürlich schon, dass Europa gut daran täte, sich noch mal mehr einfallen zu lassen als Frieden. Ein Ziel, das aber von „jungen Menschen“ – und anders als Sigmar Gabriel meine ich damit alle, die unter 70 sind – eher so als Grundversorgung angesehen wird, ist hier denkbar ungeeignet. Allzumal wenn es sich dabei um ein Projekt handelt, das gerade Deutschland bislang hart verschlafen hat. So klingt sein überhaupt nicht flammender Appell für Europa am Ende im Ohr des geneigten Zuhörers eher wie: „Yeah, bis 2025 machen wir unsere Hausaufgaben.”
Abgesehen davon nervt diese altbackene Implikation, „junge Menschen“ interessierten sich politisch nur für das Internet. Die ist falsch. Und die europafeindlichen Parteien in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich, Ungarn, usw. haben auch nicht deshalb so großen Zulauf, weil man an der Mecklenburgischen Seenplatte kein Bild per WhatsApp verschicken kann.

Gegenvorschläge: Europa besiegt Armut, Europa bringt einen Menschen auf den Mars, Europa findet ein Mittel gegen AIDS oder – ganz hochgegriffen – Europa behandelt Geflüchtete wie Menschen.

Journalist: „Was ist die eigentliche Botschaft, die sie heute hier aussenden wollen?“
Merkel: (lacht) „Es ist immer bitter, wenn man eine Viertelstunde gemeinsam gesprochen hat und dann heißt es: ‘Könnten Sie uns mal sagen, was die Botschaft ist?’ Ich kann meinen Eingangssatz nochmal wiederholen: …“

Um die Spannung vorweg zu nehmen: Merkel hat auch in ihrem Eingangssatz nichts verkündet, was entfernt an eine Botschaft erinnern könnte. Das ist in der Tat bitter, nur eben nicht für den Journalisten, sondern für sie. Und leider auch für alle, die in Deutschland leben. Denn anders als die Kanzlerin hat die AfD eine Botschaft. Die ist zwar menschenverachtend, wohlstandsgefährdend und gefährlich, aber es ist eine Botschaft, hinter der sich Menschen versammeln. Hinter Eingangssätzen mit dreißig Hauptwörtern versammelt sich niemand mehr. Und spätestens wenn die AfD in den Bundestag einzieht, reden wir dann nicht mehr von PR-Fehlern, sondern von einem dicken gesellschaftlichen Problem.

Gabriel: „Die Botschaft ist: Wir beschäftigen uns mit der Zukunft dieses Landes. Das ist die Botschaft dieser Tagung. Und das in zwei großen Feldern: der Frage der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und der Zuwanderung. Es gibt nicht viele Themen, die noch größer sind als diese. Außer die von Krieg und Frieden und der Zusammenhalt in Europa.“

Selbes Problem wie bei Merkel. Sich mit der Zukunft dieses Landes beschäftigen, macht jeder. Leider auch die AfD. Und selbst wenn sich niemand mit der Zukunft beschäftigen würde, käme sie sogar trotzdem. Also keine Botschaft.
Der doppelte Rittberger auf dem PK-Parkett ist dann noch, als SPD-Vorsitzender zwischen der Volkswirtschaft und den Zuwandernden einfach mal diejenigen Leute, die hier im Land leben, komplett nicht zu erwähnen. Dabei wäre der Weg von der Wirtschaft zum Wohlstand für alle und von den Geflüchteten zur Gerechtigkeit für alle gar nicht so weit gewesen. Aber hey, es reicht vor den nächsten Landtagswahlen bestimmt wieder, wenn man drei Wochen vor der Wahl einen populistischen Satz raushaut, um seinen Posten nicht zu verlieren.

Merkel (auf die Frage, was bis zum Ende der Legislatur noch geplant sei): „Wenn ich Ihnen mal ein Beispiel nennen darf: Es sind jetzt alle Gesetze, die wir haben, durchgesehen worden, wo handschriftliche Unterschriften ersetzt werden können durch digitale Signaturen in der Zukunft. Da gibt es, wenn ich das recht in Erinnerung habe, 2000 oder mehr gesetzliche Notwendigkeiten, wo handschriftliche Unterschrift ersetzt werden könnte durch gleichberechtigte elektronische Signatur. Und jetzt werden viele rechtliche Fragen aufgeworfen, zum Beispiel wenn ich eine elektronische Signatur nur habe, wie mache ich das sozusagen revisionssicher. Und wir werden jetzt, so ist die Ressortabstimmung eingeleitet, in 500 Fällen die Gleichrangigkeit von elektronischer Signatur und Unterschrift haben. Aber es bleiben dann immer noch 1500 Fälle und da werden wir uns jetzt zum Beispiel mal damit beschäftigen, warum ist da in der Fachabstimmung bis jetzt gesagt worden: ‘Das geht nicht.’ (…) Also ich will Ihnen nur sagen, wir sind noch gut beschäftigt, bis zum Ende der Legislaturperiode.“

Die Rechtspopulisten sind im Aufwind, politisch motivierte Straftaten nehmen zu. Aber die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik vermittelt den Eindruck, als leite sie ein Zivilrechtsseminar zur Annahme im Vertragsschluss statt einer Bundesregierung. Sensationelles Tennis.
Mit diesem kühnen Vorschlag holt sie natürlich alle ab. Wer braucht Visionen, wer braucht Lösungen, wer braucht noch mehr Fortschritt, wenn er elektronisch unterschreiben kann?

Gabriel: „90 Prozent dessen, was eine Regierung tut, ist erst mal Handwerk. Und übrigens wenn das nicht funktioniert, dann können Sie die anderen 10 %, Intuition oder was immer man da nennen will, vergessen.“

Stimmt. Für eine überzeugende Kommunikation ist dahingegen der Inhalt aber nur zu zehn Prozent verantwortlich. Die restlichen 90 Prozent sind Emotionen. Jetzt ist natürlich die spannende Frage, was man bei einer Pressekonferenz macht: regieren oder kommunizieren?
Und die noch viel spannenderen Frage: Was machen die Leute mit einer nicht überzeugend wirkenden (!) Regierung?

Schlussbemerkung:
Dass eine Pressekonferenz weder dazu da ist, die komplette politische Agenda der Regierung vorzustellen, noch geeignet ist, alle Probleme der Welt zu lösen, ist völlig klar. Trotz alledem sind Kabinettsklausuren wichtige Ereignisse, die eine hohen Medienaufmerksamkeit genießen. Zwar wird die Pressekonferenz selbst kaum jemand sehen. Jedes halbwegs seriöse Medium in Deutschland wird aber darüber berichten und alle möglichen Menschen im Land werden davon erfahren.
Das bedeutet, dass ein solcher viel beachteter Auftritt eine Möglichkeit wäre, zu den Leuten zu sprechen, die sich von den tragenden politischen Säulen dieser Bundesrepublik nichts mehr versprechen, die sie sogar zunehmend als Feind betrachten. Das sind inzwischen beängstigend viele, die beängstigend mächtig werden.
Mit einer einzelnen guten Pressekonferenz gewinnt man die natürlich nicht zurück. Mit einer klaren und einzigartigen Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Auftritte der Bundesregierung zieht, möglicherweise aber schon.

Dass die AfD zurzeit die einzige Partei in Deutschland ist, der es bundesweit und losgelöst von Einzelpersonen gelingt, eine klare und einzigartige Botschaft zu vermitteln, ist dramatisch. Das ist ein Problem, das nicht damit zusammenhängt, wer der Kanzlerkandidat der SPD wird, ob die CDU zu weit oder die SPD zu wenig links ist. Das ist ganz überwiegend ein kommunikativ-technisches Problem. Die Bundesregierung verkauft ihre unstrittigen Erfolge und schon etwas ältere Errungenschaften (Demokratie, Pluralismus, …) miserabel.
Doch handelt es sich hierbei nicht um einen Schönheitsfehler, den Spindoktoren und Agentur-Hipster halt unsexy finden. Das technische Problem wird gerade ein gesellschaftliches, da diese Pressekonferenz kein Einzel-, sondern der Regelfall ist.
Und wenn die freiheitlichen Kräfte weiterhin so nachlässig kommunizieren und den Nazis von morgen das Feld überlassen – dann fällt uns der Laden schneller auf die Füße, als wir nach der nächsten Katastrophe sagen können: „Ich habe von nichts gewusst.“/“Ich habe da nicht mitgemacht.“/“Hier, Autobahnen, es war doch nicht alles schlecht.”