Einem deutschen Trump zuvorkommen

Wir streiten uns oft, ob Wählen etwas bringt.
„Es bringt nix“, murmeln viele.
„Falsch! Deine Stimme ist wertvoll!“, kreischen Promis in Youtube-Filmchen, der gute Ton und das Gewissen der Aufgeklärten.

Wir streiten uns immer so, als gäbe es nur eine richtige Antwort.
Der Punkt ist: Es stimmt beides.

Es gibt eine Gruppe Menschen, die erlebt bei jeder Wahl, dass ihre Stimme wertvoll ist.
In Deutschland wählen diese Leute CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP.
Weil sie wirklich für diese Parteien sind oder weil sie sich für das kleinste Übel entscheiden.
Wer diese Parteien in Deutschland wählte, konnte sich – bislang – sicher sein, am Morgen nach der Wahl noch im selben System aufzuwachen.
Denn – bislang – auch wenn eine andere Partei von dieser Liste gewann, war das im Endeffekt gar nicht so schlimm – etwas anderes passierte nie.
Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Parteien: Homoehe, Mindestlohn, Kohlekraftwerke, Steuererleichterungen.
Aber bei den ganz großen Fragen gibt es diese Unterschiede nicht: Kapitalismus, Globalisierung.
„Einheitspartei!“, brüllen inzwischen der Stammtisch und die Straße.
Das ist Quatsch und große Einigkeit zwischen den Parteien hat viele Vorteile.
Wir sind seit 1945 – bislang – ein hochgradig stabiles Land.
Schlägt mal die AfD quer, können immer noch CDU, SPD und Grüne koalieren wie in Sachsen-Anhalt.
Diese Parteien tragen das System.
Die Wähler von CDU, CSU, SPD, Grüne und FDP tragen diese Parteien.
Die Wähler haben also ein Erfolgserlebnis, wenn nach dem Wahltag das System besteht.
Sie spüren, dass ihre Stimme einen Wert hat.
Dass auch noch Millionen andere Menschen so abstimmen, schmälert das Erlebnis nicht.
Der Mensch ist eitel: Meine Stimme ist wertvoll.

Dann gibt es noch eine zweite Gruppe, die am Wahltag kein Erfolgserlebnis hat.
Diese Gruppe besteht aus den Verlierern des Systems und solchen, die sich als Verlierer fühlen.
Diese Leute wählen eine Partei oder gar nicht.
Sie wachen – bislang – am Morgen nach der Wahl aber immer in einem System auf, in dem sie Verlierer bleiben.
Das wissen sie auch schon vorher, sie sind nicht dumm.
Doch – bislang – konnten sie nichts wählen, das diese Routine aufbricht.
Wenn die Welt übel ist, gibt es kein kleineres Übel, das man wählen kann.
Ihre Stimme hat für sie keinen Wert.
Dann fühlt sich Wählen albern an, sonntags kann man was Sinnvolleres machen.

Donald Trump hat zwei Sachen geschafft.
Er hat die Gruppe der sich als Verlierer Fühlenden vergrößert.
Und er hat ihnen ein Angebot gemacht: Ich mache Deine Stimme wertvoll!

Er hat zwar auch gesagt, dass er alle Probleme löst und Amerika wieder großartig macht.
Darum ging es aber nie.
Das Entscheidende war: Wer Trump wählte, hatte die Chance, am nächsten Morgen in einer anderen Welt aufzuwachen.
In dieser Welt würden die Gewinner des bisherigen Systems nichts zu lachen haben.
Daran haben diese Gewinner im Wahlkampf auch keinen Zweifel gelassen: Promis, die Wall-Street, etablierte Politiker – alle haben sich auf Hillarys Seite geschlagen und panisch vor Trump gewarnt.
Wer Trump wählte, konnte all diesen Menschen eins auswischen.
Diese Möglichkeit hatte man bislang nicht.
Man konnte zwar auch in Amerika Nazis wählen, aber wen interessierten schon Ergebnisse im Unter-ein-Prozent-Bereich?
Trump hat also den Stimmen vieler Menschen einen Wert gegeben.

Das alles verstehen wir Auf- und Abgeklärten nie so richtig.
Für uns ist Demokratie immer mit einem vernünftigen Ergebnis verbunden.
Wir sagen, die AfD ist undemokratisch.
Tatsächlich heißt Demokratie aber: die Herrschaft des Volkes.
Nicht: Das Volk entscheidet vernünftig.
Trump hat vielen Menschen Herrschaft – eben eine unvernünftige – zurückgegeben.

Das ist nachvollziehbar aber katastrophal.

Wie kann nun eine Lösung aussehen?
Im Amerika-Trump können wir von Deutschland aus wenig mitmischen.
Wir können aber verhindern, dass in Deutschland das Gleiche passiert.

Dazu müssen wir allen eine Stimme geben.
Nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch.
Dabei ist das Dümmste, was man machen kann, die Stimmen der Verlierer niederzuschreien.
„Ihr seid alle Nazis und werdet hier nie etwas zu sagen haben!“
Symbolisch dafür ist die SPD-Kampagne „Meine Stimme für Vernunft“.
Das kannste natürlich schon so machen, aber am Wahltag geht es eben nicht um Vernunft.

Klug – und richtig – wäre es, den sich als Verlierer fühlenden ein Angebot zu machen, bevor es jemand anderes tut.
Trump, Petry, Satan, Beelzebub.
So ein Angebot enthält nicht die Wörter: 8,50 Euro, „mit Augenmaß“, Beitragsbemessungsgrenze, „Politik ist das Bohren dicker Bretter“, kein Weiter-so und „Danke für gute Gespräche, gerne wieder!“.
Jede Partei, die linken allen voran, können sich einen abeiern, wie sie wollen.
Sie werden nie rechtfertigen können, warum in Deutschland manche Sozialarbeiterin weniger als Hartz-IV verdient und ein Vorstandsvorsitzender mit Millionen nach Hause geht.
Es muss um den großen Wurf gehen.
Wer sich als Verlierer fühlt, dem ist mit etwas Verbesserung zu wenig geholfen.
Dem ist nicht mit einer erdrückenden Stabilität und der Staatsverantwortung der SPD geholfen.

Politische Ideen sind da das eine.
Eine Sprache, die die Betroffenen verstehen und die sie berührt das andere.

Die Welt muss dabei nicht von heute auf morgen perfekt werden.
Aber solange keine gute Partei den Systemverlierern einen Weg aus der Krise zeigt, werden es die schlechten machen.

Und was unsere Parteien machen, hängt nicht von den Clintons, Merkels, Seehofers und Gabriels dieser Welt ab.
Sondern von jedem von uns.
Mutig sein.

Was wir aus der Burkadiskussion nicht lernen

Italiens Premierminister verkündet seine Vision für Europa – auf einem fucking Flugzeugträger! Und wir? Wir diskutieren über Stoff.

(Der folgende Text enthält zwölf Mal das Wort Diskussion, und sieben Mal das Wort Burka. Nur dass klar ist, wohin der Hase läuft)

Eigentlich sollte dieser Text überhaupt nicht geschrieben werden. Eine Diskussion für wertlos zu befinden um sich dann selbst mit Anlauf hineinzuwerfen klingt nicht unbedingt nach rationalem Handeln. Muss leider trotzdem getan werden. Seit beinahe zwei Wochen warte ich darauf, dass die sogenannte Burka-Diskussion für beendet erklärt wird. Zwei Wochen lang sah das anscheinend sonst kaum jemand so, denn inzwischen hat jeder relevante Kommentator dieses Thema, das irrelevanter nicht sein könnte, kommentiert. Wer es dennoch verpasst hat: Die Unionsinnenminister haben eine Erklärung zur inneren Sicherheit beschlossen, in der verschiedene Sicherheitsmaßnahmen diskutiert wurden, wohl vor allem, um die Bürger zu beruhigen. Das Gegenteil davon haben sie erreicht.

Anstatt dass nun aber die tatsächlich relevanten Inhalte des Papiers (Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft, Bundeswehreinsatz im Inneren) oder noch besser tatsächlich hilfreiche Maßnahmen gegen Radikalisierung und Terrorismus diskutiert werden, spricht seither jeder nur über die prominenteste, weil visuell und symbolisch fassbarste Idee der Innenminister: Das Verbot von Ganzkörper- und Gesichtsschleiern. Dabei handelt es sich um eine unglaublich unnötige und in jeder Hinsicht kontraproduktive Diskussion. Wenn Unionsinnenminster über innere Sicherheit diskutieren, hat es anscheinend die Qualität von dem, was ordenbehangene Generäle in amerikanischen Actionfilmen zur nationalen Sicherheit sagen: Mit Vernunft, Augenmaß oder überhaupt der Realität hat das selten zu tun.

Die Diskussion war von Beginn an unaufrichtig, denn sie wurde angestoßen im Wissen, dass ein solches Verbot verfassungsrechtlich gesehen keine Chance hat. Selbst wenn sich die Regierung darauf verständigen würde, spätestens in Karlsruhe ist Schluss. Das Grundgesetz verteidigt Grundrechte auch gegen das Abendland, ein Burkaverbot wird es nicht geben – und das muss es auch nicht. Auch Unionsinnenminister wissen, dass es eben nur eine Handvoll Burkaträgerinnen in Deutschland gibt. Und mit Terrorismus haben diese recht wenig zu tun.

Ebenso wenig haben Burka und Niqab mit „unseren Werten“ zu tun. Unsere Werte stehen und fallen nicht mit einem Kleidungsstück. Auch nicht, wenn es uns fremd oder unangenehm ist. Diese Werte stehen und fallen vielmehr mit unserem Umgang mit dem, was uns fremd und unangenehm ist. Ein Verbot aus persönlichen Empfindungen abzuleiten ist absurd. Wenn wir schon dabei sind: Ich kann Leute in Camouflage-Look nicht ernstnehmen, finde Alpha-Industries-Jacken und hochgekrempelte Chinos scheisse, und wer daraus die Notwendigkeit für Verbote ableiten möchte, darf dies gerne tun. Der vielleicht einzige schlaue Satz von De Maiziere in den vergangenen Wochen war: Man kann nicht alles verbieten, was einem nicht gefällt.

Ich persönlich bin auch gegen die Vollverschleierung – einfach weil sie meinem Empfinden nach Kommunikation unmöglich macht (und dies wohl auch ihre primäre Aufgabe ist). Selbst unbewusste, ungezielte, nonverbale Kommunikation, als das, was menschliches Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht, wird durch einen Gesichtsschleier von vornherein abgeblockt. Aber ich bin gerne bereit, das auszuhalten, wenn es die Garantie persönlicher Freiheiten bedeutet – so absurd mir diese auch erscheinen mögen.

Kommunikation  tauchte in der Diskussion allerdings erst ganz zum Schluss auf: Stattdessen wurde die meiste Zeit mit dem Kampfbegriff Integration suggeriert, dass Hotpants oder Bikinis die einzig zulässigen Indikatoren für unseren westlichen Wertekanon seien. Auf den armseligen Versuch ausgerechnet der Rechten, daraus eine feministische Sache zu machen, brauche ich gar nicht erst eingehen. Am Ende bleibt also der Stellvertreter-Effekt, der die Burka als Argument gegen den Islam ins Feld führt.

Diese Diskussion hilft niemandem weiter, stattdessen schadet sie enorm. Sie wirft erneut Begriffe, Symbole und Bilder durcheinander, führt zur Solidarisierung der Mal wieder in einen Topf geworfenen muslimischen Gruppen und letztlich zur Abschottung von einer als anti-muslimisch empfundenen Mehrheitsgesellschaft. Mal wieder wird das Islamverständnis der Bevölkerung auf Anfang gedreht – wie jedes Mal, wenn diese dumme Diskussion aufkommt. Mit jeder Schlagzeile, jedem Titelbild in den Zeitungen oder Teaserbild bei Tagesschau und Facebook: Eine nicht identifizierbare, gesichts- und formlose Figur, eingehüllt in schwarz oder blau, wird zum Symbolbild für den Islam in Deutschland. Das finden die vier Millionen Muslime in Deutschland bestimmt großartig.

Dabei kommen auf jede Irakerin, die ihren Niqab freiwillig und mit Überzeugung trägt, 10, 100, 1000 Irakerinnen, die hier unter uns leben und keinen Niqab tragen. Das heißt nicht, dass die Perspektive von Amina Hassan es nicht wert sei, gehört und nachvollzogen zu werden. Empathie hat noch nie geschadet! Aber es ist nicht die Perspektive der Mehrheit dieser Minderheit in Deutschland, die durch die überproportionale Beschäftigung mit dem Thema Vollverschleierung insgesamt in die Defensive gerät. Was hängen bleibt: „Du / deine Eltern / deine Großeltern kommst aus dem Irak? Weshalb bist du nicht verschleiert?“

Diese Diskussion hat eine ähnliche Qualität wie die von der AfD angestoßenen Scheindebatten des vergangenen Jahres, nur dass diesmal nicht die Provokations-Guerilla Gauland und Co. dahintersteckt, sondern eine Runde Unions-Innenminister, die kurz vor den Landtagswahlen das Lieblingsthema der AfD abziehen wollen. Der Kollateralschaden wird eben in Kauf genommen.

Und jetzt der große Bogen: Diese angeblich gesellschaftliche Diskussion war pure Zeitverschwendung, so wie auch eine Reihe anderer gesellschaftlicher Diskussionen der letzten Zeit. Ob man als Deutscher die Nationalhymne mitsingen muss (Nein), ob Bulgaren und Rumänen in unsere Sozialsysteme einfallen (Nein), ob der Islam zu Deutschland gehört (Ich verstehe die Frage nicht). Wir sind seit Jahren permanent auf der Suche nach Grenzen und Linien, nach Parametern, die definieren, wer wir sind, wer zu uns gehört, wie er/sie auszusehen hat und wem hier welcher Anteil am Gemeinwesen zusteht. Es ist eine ständige  Selbstbeschäftigungsmaßnahme, über die wir vergessen darüber nachzudenken, wer und wie wir gerne sein würden. Und über die wir auch die wirklich wichtigen Probleme der Gegenwart und der Zukunft vergessen.

Brexit? Spielt keine Rolle. Flüchtlinge? Nur im Zusammenhang mit Kriminalität oder Terrorismus interessant. Die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland? Eine Strategie oder Idee darüber, wie wir unser Zusammenleben in Zukunft gestalten wollen, in Deutschland und Europa? Existiert nicht und wird – wie man sieht – auch nicht erarbeitet. Stattdessen Stoff, der für ein paar Hundert Menschen in Deutschland existenziell, für alle anderen ohne Bedeutung ist. Beziehungsweise war, denn mit dieser erneuten langwierigen, oberflächlichen und inhärent ergebnislosen Diskussion hat sich das Bild Burka = Islam = Gefahr verfestigt.  Es ist richtig und wichtig, die Sorgen und Ängste der Bürger ernstzunehmen und ihnen aufrichtig zu begegnen. Die vermeintliche Bedrohung, die die Menschen in diesem Fall empfinden und auf die das Verbot angeblich nur reagiert, wird durch dieses Bild aber überhaupt erst erzeugt, vom unangenehmen Gefühl des Nicht-Kommunizieren-Könnens hin zur Angst vor einer Terroristin ist es ein weiter Weg – und wir haben ihn erfolgreich hinter uns gebracht. The damage is done. Und Matteo Renzi steht alleine auf seinem Flugzeugträger und muss sich fragen, was zur Hölle eigentlich mit uns los ist.

Deutschland wird auch in der Pressekonferenz verteidigt!

Politikverdrossenheit, AfD-Auf- und SPD-Abstieg, Hass auf Europa. Man kann sich zurzeit drölftausend Kommentare, Blogbeiträge und Reportagen zu diesen Krisen und ihren Ursachen gönnen. Oder man kann sich die katastrophale Pressekonferenz von Angela Merkel und Sigmar Gabriel nach der Kabinettsklausur gestern in Meseberg anschauen.

Natürlich schaut kein Mensch Pressekonferenzen. Das wiederum hält gestandene Giganten wie Sigmar Gabriel – natürlich – nicht davon ab, das halbstündige Video davon auf Facebook zu posten. Hört man der Kanzlerin und ihrem Vize aber auch nur halbwegs aufmerksam zu, bekommt man ohrgerecht serviert, warum die Begeisterung für Europa in Europa gerade eher so lala ist und CDU und SPD keine Wurst mehr vom Teller ziehen. Und warum man der AfD genau damit den roten Teppich ausrollt.

Da man von niemandem verlangen kann, sich dreißig Minuten Pressekonferenz zu geben: hier das komplette Desaster in fünf beispielhaften Ausschnitten. (Zuerst dachte ich, es sei eine einschläfernde PK, doch was dann passierte, war unglaublich.)

Gabriel: „Ich werde ja auch immer wieder gefragt, was ist denn möglicherweise ein Ziel, was Menschen wieder von Europa begeistert. Ich glaube, junge Leute würden sich sehr für Europa begeistern, wenn Europa sagen würde: ‚Wir wollen im Jahr 2025 die weltweit beste digitale Infrastruktur haben und dafür unsere Kräfte bündeln.’“

Geil, Herr Wirtschaftsminister. So eine stramme „Think-big-and-see-the-big-picture“-Ansage reicht bestimmt, um in der Berliner Torstraße ein Start-Up für irgendwas mit Vegan Food und Dating gepflegt an die Wand zu fahren. Sie reicht aber zweifellos nicht, um Menschen für Europa zu begeistern. Neben dieser recht erfolgreichen Gründungsidee Europas, nämlich zu verhindern, dass sich der Staatenhaufen alle paar Jahre gegenseitig die Köpfe einschlägt, wirkt flüssiges Netflix-Streamen bzw. Unternehmengründen im Schwarzwald gar nicht mehr so „big“.
Richtig ist natürlich schon, dass Europa gut daran täte, sich noch mal mehr einfallen zu lassen als Frieden. Ein Ziel, das aber von „jungen Menschen“ – und anders als Sigmar Gabriel meine ich damit alle, die unter 70 sind – eher so als Grundversorgung angesehen wird, ist hier denkbar ungeeignet. Allzumal wenn es sich dabei um ein Projekt handelt, das gerade Deutschland bislang hart verschlafen hat. So klingt sein überhaupt nicht flammender Appell für Europa am Ende im Ohr des geneigten Zuhörers eher wie: „Yeah, bis 2025 machen wir unsere Hausaufgaben.“
Abgesehen davon nervt diese altbackene Implikation, „junge Menschen“ interessierten sich politisch nur für das Internet. Die ist falsch. Und die europafeindlichen Parteien in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Österreich, Ungarn, usw. haben auch nicht deshalb so großen Zulauf, weil man an der Mecklenburgischen Seenplatte kein Bild per WhatsApp verschicken kann.

Gegenvorschläge: Europa besiegt Armut, Europa bringt einen Menschen auf den Mars, Europa findet ein Mittel gegen AIDS oder – ganz hochgegriffen – Europa behandelt Geflüchtete wie Menschen.

Journalist: „Was ist die eigentliche Botschaft, die sie heute hier aussenden wollen?“
Merkel: (lacht) „Es ist immer bitter, wenn man eine Viertelstunde gemeinsam gesprochen hat und dann heißt es: ‚Könnten Sie uns mal sagen, was die Botschaft ist?‘ Ich kann meinen Eingangssatz nochmal wiederholen: …“

Um die Spannung vorweg zu nehmen: Merkel hat auch in ihrem Eingangssatz nichts verkündet, was entfernt an eine Botschaft erinnern könnte. Das ist in der Tat bitter, nur eben nicht für den Journalisten, sondern für sie. Und leider auch für alle, die in Deutschland leben. Denn anders als die Kanzlerin hat die AfD eine Botschaft. Die ist zwar menschenverachtend, wohlstandsgefährdend und gefährlich, aber es ist eine Botschaft, hinter der sich Menschen versammeln. Hinter Eingangssätzen mit dreißig Hauptwörtern versammelt sich niemand mehr. Und spätestens wenn die AfD in den Bundestag einzieht, reden wir dann nicht mehr von PR-Fehlern, sondern von einem dicken gesellschaftlichen Problem.

Gabriel: „Die Botschaft ist: Wir beschäftigen uns mit der Zukunft dieses Landes. Das ist die Botschaft dieser Tagung. Und das in zwei großen Feldern: der Frage der Wettbewerbsfähigkeit unserer Volkswirtschaft und der Zuwanderung. Es gibt nicht viele Themen, die noch größer sind als diese. Außer die von Krieg und Frieden und der Zusammenhalt in Europa.“

Selbes Problem wie bei Merkel. Sich mit der Zukunft dieses Landes beschäftigen, macht jeder. Leider auch die AfD. Und selbst wenn sich niemand mit der Zukunft beschäftigen würde, käme sie sogar trotzdem. Also keine Botschaft.
Der doppelte Rittberger auf dem PK-Parkett ist dann noch, als SPD-Vorsitzender zwischen der Volkswirtschaft und den Zuwandernden einfach mal diejenigen Leute, die hier im Land leben, komplett nicht zu erwähnen. Dabei wäre der Weg von der Wirtschaft zum Wohlstand für alle und von den Geflüchteten zur Gerechtigkeit für alle gar nicht so weit gewesen. Aber hey, es reicht vor den nächsten Landtagswahlen bestimmt wieder, wenn man drei Wochen vor der Wahl einen populistischen Satz raushaut, um seinen Posten nicht zu verlieren.

Merkel (auf die Frage, was bis zum Ende der Legislatur noch geplant sei): „Wenn ich Ihnen mal ein Beispiel nennen darf: Es sind jetzt alle Gesetze, die wir haben, durchgesehen worden, wo handschriftliche Unterschriften ersetzt werden können durch digitale Signaturen in der Zukunft. Da gibt es, wenn ich das recht in Erinnerung habe, 2000 oder mehr gesetzliche Notwendigkeiten, wo handschriftliche Unterschrift ersetzt werden könnte durch gleichberechtigte elektronische Signatur. Und jetzt werden viele rechtliche Fragen aufgeworfen, zum Beispiel wenn ich eine elektronische Signatur nur habe, wie mache ich das sozusagen revisionssicher. Und wir werden jetzt, so ist die Ressortabstimmung eingeleitet, in 500 Fällen die Gleichrangigkeit von elektronischer Signatur und Unterschrift haben. Aber es bleiben dann immer noch 1500 Fälle und da werden wir uns jetzt zum Beispiel mal damit beschäftigen, warum ist da in der Fachabstimmung bis jetzt gesagt worden: ‚Das geht nicht.‘ (…) Also ich will Ihnen nur sagen, wir sind noch gut beschäftigt, bis zum Ende der Legislaturperiode.“

Die Rechtspopulisten sind im Aufwind, politisch motivierte Straftaten nehmen zu. Aber die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik vermittelt den Eindruck, als leite sie ein Zivilrechtsseminar zur Annahme im Vertragsschluss statt einer Bundesregierung. Sensationelles Tennis.
Mit diesem kühnen Vorschlag holt sie natürlich alle ab. Wer braucht Visionen, wer braucht Lösungen, wer braucht noch mehr Fortschritt, wenn er elektronisch unterschreiben kann?

Gabriel: „90 Prozent dessen, was eine Regierung tut, ist erst mal Handwerk. Und übrigens wenn das nicht funktioniert, dann können Sie die anderen 10 %, Intuition oder was immer man da nennen will, vergessen.“

Stimmt. Für eine überzeugende Kommunikation ist dahingegen der Inhalt aber nur zu zehn Prozent verantwortlich. Die restlichen 90 Prozent sind Emotionen. Jetzt ist natürlich die spannende Frage, was man bei einer Pressekonferenz macht: regieren oder kommunizieren?
Und die noch viel spannenderen Frage: Was machen die Leute mit einer nicht überzeugend wirkenden (!) Regierung?

Schlussbemerkung:
Dass eine Pressekonferenz weder dazu da ist, die komplette politische Agenda der Regierung vorzustellen, noch geeignet ist, alle Probleme der Welt zu lösen, ist völlig klar. Trotz alledem sind Kabinettsklausuren wichtige Ereignisse, die eine hohen Medienaufmerksamkeit genießen. Zwar wird die Pressekonferenz selbst kaum jemand sehen. Jedes halbwegs seriöse Medium in Deutschland wird aber darüber berichten und alle möglichen Menschen im Land werden davon erfahren.
Das bedeutet, dass ein solcher viel beachteter Auftritt eine Möglichkeit wäre, zu den Leuten zu sprechen, die sich von den tragenden politischen Säulen dieser Bundesrepublik nichts mehr versprechen, die sie sogar zunehmend als Feind betrachten. Das sind inzwischen beängstigend viele, die beängstigend mächtig werden.
Mit einer einzelnen guten Pressekonferenz gewinnt man die natürlich nicht zurück. Mit einer klaren und einzigartigen Botschaft, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Auftritte der Bundesregierung zieht, möglicherweise aber schon.

Dass die AfD zurzeit die einzige Partei in Deutschland ist, der es bundesweit und losgelöst von Einzelpersonen gelingt, eine klare und einzigartige Botschaft zu vermitteln, ist dramatisch. Das ist ein Problem, das nicht damit zusammenhängt, wer der Kanzlerkandidat der SPD wird, ob die CDU zu weit oder die SPD zu wenig links ist. Das ist ganz überwiegend ein kommunikativ-technisches Problem. Die Bundesregierung verkauft ihre unstrittigen Erfolge und schon etwas ältere Errungenschaften (Demokratie, Pluralismus, …) miserabel.
Doch handelt es sich hierbei nicht um einen Schönheitsfehler, den Spindoktoren und Agentur-Hipster halt unsexy finden. Das technische Problem wird gerade ein gesellschaftliches, da diese Pressekonferenz kein Einzel-, sondern der Regelfall ist.
Und wenn die freiheitlichen Kräfte weiterhin so nachlässig kommunizieren und den Nazis von morgen das Feld überlassen – dann fällt uns der Laden schneller auf die Füße, als wir nach der nächsten Katastrophe sagen können: „Ich habe von nichts gewusst.“/“Ich habe da nicht mitgemacht.“/“Hier, Autobahnen, es war doch nicht alles schlecht.“

Hagel und Granaten

Ein paar unvollständige, eher unreflektierte und garantiert emotional aufgeladene Gedanken zum Anschlag auf ein Flüchtlingsheim in Baden-Württemberg.


 

„Politik reagiert mit Entsetzen.“ Das ist angesichts des vergangenen Jahres, mit einer inzwischen vierstelligen Zahl an zum Teil gewalttätigen Angriffen oder Anschlagsversuchen auf Asylbewerber, Flüchtlinge und deren Unterkünfte, nicht nur unglaubwürdig. Sondern auch zu wenig!

Wenn De Maizière jetzt sagt, dass es „bei Gewalt“ eine klare Grenze in Deutschland gebe, und zwar „sowohl von als auch gegen Asylbewerber“, dann ist das für mich eine Relativierung. Und zwar nicht in einem einordnenden, Zusammenhänge herstellenden Sinn, sondern in einem hundertprozentigen Dickhead-Sinn. Das ist einfach nicht die notwendige Ansage. Und es verharmlost die Sache an sich:

Wenn in Deutschland jemand mit einer echten Handgranate beworfen wird, dann sprengt das – haha – meine Vorstellungskraft. Eine Handgranate ist nicht „quasi eine militärische Waffe“ (Kretschmann). Es IST eine militärische Waffe. Die in ihrem Wirkungskreis möglichst viel irreparablen menschlichen Schaden verursachen, die töten soll. Die Staatsanwaltschaft ist momentan der Ansicht, dass das Vorhandensein eines Zünders ausschlaggebend für die Bewertung dieser Tat ist. Juristisch nachvollziehbar. Aber wer eine mit Sprengstoff gefüllte Handgranate auf 170 Asylbewerber wirft, viele davon Frauen und Kinder, ausnahmslos alle davon Zivilisten, dem unterstelle ich persönlich schon so etwas wie eine – und wenn auch nur klitzekleine, insgeheime – Tötungsabsicht.

In jedem Fall, ob die Granate nun explodieren sollte oder nicht: Was dort erreicht werden sollte erfüllt jede Definition von Terrorismus. Nicht islamistischer Terrorismus, nee. Nur den guten deutschen old-school-Terrorismus: in Weimar geübt, später ordentlich perfektioniert, eine Weile zwangspausiert, und ab dann regelmäßig ausgepackt, wenn die Politik nicht so wollte wie man selbst und/oder der Rechtsstaat gerade anderweitig beschäftigt war.

Das heißt jetzt nicht, dass ich sinnlosen und unseriösen Aktionismus sehen möchte. Aber seriöse Aufklärung durch Polizei und Justiz, durch den Rechtsstaat eben, mit der viel zitierten „ganzen Härte“, wobei mir schon die einfache, normale Härte völlig ausreicht.

Und eine seriöse Auseinandersetzung der Politik mit einer Gesellschaft, die offensichtlich an ihren Rändern in Extreme ausfranst. Menschen, die auf andere Menschen Handgranaten werfen oder – wie kürzlich in Karlsruhe – Schüsse abgeben, sind dem demokratischen Spektrum abhandengekommen. Manche Leute glauben, dass sie den Worten anderer eigene Taten folgen lassen müssen. Diese anderen, offen rechte Parteipolitiker, weniger offen rechte Parteipolitiker, Medienschaffende, Facebook-Krieger …, tragen mit Schuld an der Radikalisierung unserer Gesellschaft. Sie suggerieren eine Bedrohung des Staates, durch Ausländer, Fremde, Terroristen, und schaffen damit die Grundlage für eine reale Bedrohung des Staates. Durch Deutsche, die Terroristen werden.

 

Nazis wie Untermenschen behandeln? Eher so mittelklug.

Viele Menschen schreiben im Netz gegen die platten Parolen von Flüchtlingsgegnern an. Das ist gut. Leider schießen sie dabei immer häufiger übers Ziel hinaus. Voller Leidenschaft wirft man selbst mit kaum geistreicheren Parolen um sich, pöbelt rum, beleidigt Mitmenschen. Das kann verheerende Folgen haben. Denn wenn wir alle zu Flüchtlingsdebatten-Mario-Barths werden („Nazis! Kennze, kennze! Glatzen und Rechtschreibfehler! Brahaha!“), dann hatten wir vielleicht kurz Spaß, aber langfristig erheblich mehr Schaden angerichtet, als geholfen.


 

„Jemandem einen Bärendienst leisten“ bedeutet, demjenigen trotz guter Absichten zu schaden. Es fällt nicht leicht, diesen Vorwurf auszusprechen, wenn man die guten Absichten des unwillkürlichen Schädigers teilt. Aber gut gemeint ist eben nicht immer gut gemacht. Und nicht gut gemacht heißt manchmal auch: ordentlich daneben gehauen.

Leider tauchen in der Flüchtlingsdebatte zurzeit immer mehr Bärendienstleister auf. Insbesondere auf Facebook. Leidenschaftlich lautstark setzen sich dort Menschen für Flüchtlinge ein. Das finde ich gut. Allerdings bedienen sich immer mehr von ihnen derselben ausgrenzenden und menschenverachtenden Methoden derer, denen sie Ausgrenzung und Menschenverachtung vorwerfen. Nachdem sie irgendwelchen Flüchtlingsgegnern reingedrückt haben, was für schlechte, ungebildete Menschen diese doch sind, fühlen sie sich wie Sieger. Langfristig treiben sie aber einen Keil in unsere Gesellschaft und mehr wütende Menschen vor die Flüchtlingsheime.
Ein generisches Beispiel:

Flüchtlingsgegner X: Flüchtlinge sind Abschaum! Ihr seid arschkriechende Gutmenschen!
Flüchtlingsunterstützer Y: Du bist ungebildet, deine Rechtschreibung ist fehlerhaft, du bist ein Nazi und Abschaum! Menschen wie du kotzen mich an!

Das sind nun keine Originalzitate, aber erstaunliche viele Kommentargefechte, wenn nicht die Debatte auf Facebook als Ganze, lassen sich ziemlich ausschließlich auf diese beiden Vorwürfe eindampfen. (Hier noch ein reales Beispiel.)

Natürlich führen Flüchtlingsgegner in ganz vielen Fällen ganz falsche Fakten an. Das sind alles Wirtschaftsflüchtlinge! (Nein.) Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg! (Die dürfen gar nicht arbeiten.) Die sind kriminell! (Falsch.) Die haben Handys! (Ja, und?!)
Diese Behauptungen sind inzwischen wohl jedem schon einmal untergekommen. Sie sind falsch oder irrelevant, das kann man drehen und wenden, wie man will. Sie provozieren uns.
Natürlich ist die Flüchtlingskrise eine menschliche Katastrophe, die vielen Menschen emotional sehr nahe geht. Wir sehen Bilder von schreienden Kindern, von überladenen Booten und blutenden Flüchtlingen an der mazedonischen Grenze. Der Unwille der europäischen Regierungschefs endlich an einem Strang zu ziehen macht uns wütend, die Ideenlosigkeit unserer eigenen Kanzlerin ist nichts Neues aber hier besonders schmerzhaft. In dieser Wut liegt es nahe, im Internet etwas Dampf abzulassen, wenn einem jemand blöd kommt.

Dennoch sollte es ebenso natürlich sein, dass die Rechtschreibschwäche eines Menschen nichts mit dem Wert seiner politischen Haltung zu tun hat. Ob es „Asylanten“ oder „Assilanden“ heißt, ist doch aus argumentativer Sicht herzlich egal. Trotzdem sieht man dutzende Sharepics, Youtube-Clips und Kommentare, die sich allein auf orthographische Kritik beschränken. Das sind nicht nur verschenkte Chancen, sondern das ist schlicht herabwürdigend elitär.
Ebenso natürlich, wie dass Bilder von leidenden Flüchtlingen viele Menschen aufwühlt, sollte es doch auch sein, dass viele Menschen, die wenig Geld haben und noch weniger Aufmerksamkeit von der Öffentlichkeit bekommen, Angst um das Wenige verspüren, was sie haben, und sich ungerecht behandelt fühlen, weil jetzt auch noch fremde Mittellose mehr Beachtung bekommen als sie. Ob diese Angst und dieses Gefühl begründet oder angebracht sind, ist abermals völlig egal. Ängste und Gefühle sind für die Betroffenen real, mehr zählt nicht. Der Nazi-Vorwurf ist hier in den allermeisten Fällen deswegen auch völlig verkehrt, weil diese Menschen nicht ideologisch handeln. Nazi ist für sie ein Schimpfwort wie für jeden anderen von uns. Es liegt an uns, dass wir das Wort „Nazi“ für diese Leute nicht zu einem Zeichen des wahrhaftigen Widerstandes aufwerten.
Gewiss gibt es auch genügend gebildete und gut situierte Flüchtlingsgegner, die möglicherweise ideologisierter unterwegs sind. Aber auch hier gilt: Die Ideologie kann, nein, muss man angreifen. Aber nicht den Menschen in seinem Wesen.
Das ist aus drei Gründen wichtig: Erstens sperrt man somit die Menschen nicht in eine unnötige Schicksalsgemeinschaft, in der sie sich weiter radikalisieren. Zweitens stärkt es unsere Kritik am Rassismus, wenn wir sie auf die Ideologie mit ihren eigenen ihr innewohnenden Schwächen beziehen und Rassismus nicht verharmlosend als etwas abtun, „das eben dumme Leute sagen“. Drittens machen wir uns selber so nicht unglaubwürdig. Der sozialwissenschaftliche Oberbegriff für Antisemitismus, Homophobie, Ausländerfeindlichkeit, Sexismus usw. lautet „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“. Wenn unsere Kritik an Nazis so platt wird, dass wir nur noch über ihre Glatzen lachen, und es nicht schaffen, den Faschismus argumentativ zu zerlegen, dann sind wir doch bei derselben Oberflächlichkeit und demselben zerstörerischen Hass gelandet, den wir ständig anprangern. Dann sind wir nur noch gruppenbezogene Menschenfeinde und keine wirksamen Verteidiger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung mehr.

Wenn Deutschland die Flüchtlingskrise meistern soll, dann geht das nur, wenn weniger wütende Menschen in Freital, in Heidenau und auch auf Facebook sind, wo sie alle anderen davon abhalten, den fliehenden Menschen in Not zu helfen. Nur wird es eben immer mehr wütende Menschen geben, wenn wir immer mehr Leute in die undifferenzierte Schublade der rechtschreibschwachen Nazis packen. Hass wird durch Gegenhass nur gesteigert. Ausgrenzung bringt wirkliche Nazis und Flüchtlingsgegner nur zusammen.

Und auch wenn wir Recht haben, dass es „Asylanten“ und nicht „Assilanden“ heißt. Und auch wenn wir wissen, dass wir Flüchtlingen helfen können und müssen. Selbst wenn wir uns zu dem Glauben hinreißen lassen, dass wir die Guten sind. Den Flüchtlingen helfen wir nicht, wenn wir uns auf Facebook wie arrogante Arschlöcher aufführen und ihnen damit einen wütenden Mob vor den Flüchtlingsheimen und politischen Gegenwind im Parlament bescheren.
Wenn wir super umständlich erklären können, dass Wirtschaftsflüchtlinge an sich ohnehin keinen Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel haben oder wir mal wieder einen gravierenden das/dass-Fehler entdeckt habe, und das irgendeinem gesichtslosen Ich-bin-kein-Nazi-aber-Facebooknutzer hart ins Gesicht drücken können, dann haben wir vielleicht gefühlt die Schlacht gewonnen, aber den Krieg gewinnen wir so eben nicht.
Wir können doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir eine sachliche Debatte ohne gesellschaftliche Konflikte über Flüchtlinge führen können, wenn wir pausenlos große Bevölkerungsteile in der Presse, der Politik und auf Facebook als Hinterwäldler-Deppen verunglimpfen. Diese Vorstellung ist ebenso naiv wie jene, dass Flüchtlinge keine Handys haben sollten.

So schwer es vielleicht fällt und so unsexy es klingt: Ein respektvoller Umgang mit den Mitmenschen ist das, was wir von den Flüchtlingsgegnern gegenüber den Flüchtlingen einfordern. Also sollten auch wir zu einem respektvolleren Umgang mit Menschen mit anderer Haltung in Flüchtlingsfragen zurückfinden.
Unser allein entscheidendes Ziel muss es sein, das Beste für die Flüchtlinge zu erreichen. Nicht unseren messerscharfen Verstand ins Schaufenster zu stellen oder die besten Witze über Menschen zu machen, die wir doof finden. Klar, Satire darf alles. Das heißt aber nicht, dass jeder jederzeit satirisch auch alles raushauen muss, was ihm in den Sinn kommt. Witze können helfen, Kritik zugänglich zu machen oder schlimme Dinge zu verarbeiten. Sie können aber auch einfach schlecht und unangemessen sein. Nazis sind nicht hässlich. Nazis haben die schlimmsten Verbrechen der Menschheit begangen. Es interessiert kein bisschen, ob sie schön sind oder nicht.
Oder zum Beispiel dieser bescheuerte Gag:

„Können wir nicht für jeden aufgenommenen Flüchtling einen Nazi abschieben?“

Nein, können wir nicht! Weil nach unserem Gesellschaftsideal niemand abgeschoben wird, ob er ein Arsch ist oder nicht. Weil wir nach Einigkeit streben und nicht nach Teilung. Uns muss doch mehr von den Nazis unterscheiden, als dass wir andere Menschen abschieben wollen. Die Frage ist natürlich humorvoll gemeint. Das ändert aber nichts daran, dass sie unsere Glaubwürdigkeit untergräbt und Menschen radikalisiert, die hier mit uns leben.
Und klar, die Geschichte darf sich nicht wiederholen. Aber Demonstranten vor Flüchtlingsheimen haben nichts mit einem bevorstehenden Rückfall in einen faschistischen Führerstaat zu tun. Wehret den Anfängen, ja, aber eine zeitgeschichtliche Mücke ist eine Mücke ist ein Mücke und kein Elefant. Wer anderes behauptet, meint es gut, schießt sich mit der Dramatisierung aber selbst ins Bein, weil er so nur zu mehr Ausgrenzung und Unsachlichkeit beiträgt.

Wir müssen Fremdenfeindlichkeit und Neonazismus in Deutschland zu jeder Zeit ohne Ausnahme entschieden entgegentreten. Aus historischer Verantwortung und gegenwärtiger Vernunft. Aber das schaffen wir, indem wir für Freiheit und Gleichheit werben, indem wir aufklären. Nicht indem wir uns mit den Menschenfeinden gemein machen und auch beginnen, Menschen wegen ihrer Haltung die Würde und die Achtung zu nehmen. Das lenkt nur ab. Und gerade wenn es zu Ausschreitungen in Thüringen kommt, brauchen wir präzise Kritik.

Es sind die radikalisierten Ausgegrenzten, die ignorierten Enttäuschten, die eine Gesellschaft gefährden. Nicht die Rechtschreibfehler auf Facebook oder die Glatzen auf den Köpfen.
Es ist ein friedliches, sicheres Land, das die Flüchtlinge suchen. Nicht ein Land geteilt in elitäre Rechthaber und aggressive Stimmungsmacher.
Lasst uns also wieder weniger Bär, mehr Mensch sein und den Laden zusammenhalten.

Hickhack no more. Oder: Wählen wahre Sozialdemokraten Merkel?

Das SPD-Mitglied Björn Uhde hat in seinem Blogbeitrag „Zickzack No More“ Sigmar Gabriel kritisiert und dabei für etwas Wirbel gesorgt.
Ich habe mich gefragt, was mir ein nach eigenem Bekunden überzeugter Sozialdemokrat, der Merkel wählen will und sich irrlichternd in Widersprüchen verheddert, eigentlich sagen will.
Hier meine Antwort:

Hallo Björn,

ich habe auch ein Problem: Deinen Beitrag „Zickzack no more“ hast Du auf einer Webseite namens „deinespd.de“ veröffentlicht und benutzt dort 26 Mal das Wort „ich“. Im ersten Absatz erklärst Du, dass in Deiner Facebookgruppe nur 8.200 Mitglieder sind (im Vergleich zu 460.000 SPD-Mitgliedern) und behauptest im nächsten Satz, dass sich dort „deutschlandweit die Basis trifft“. Du wirfst unserem Parteivorsitzenden vor, dass er sich selbst zu wichtig nimmt, und heute sehe ich, wie Du durch die SPD-Gruppen ziehst und Bilder von Zeitungsartikeln mit Deinem Foto postest.

Lieber Björn, am Anfang Deines Beitrags schreibst Du, dass die SPD kein „Abnickverein [ist], sondern eine lebendige Partei, in der gerne diskutiert wird.“ Und im gesamten übrigen Text stimmst Du ein Loblied auf die bedingungslose Verlässlichkeit an, forderst, dass Parteivorsitzender und Partei grundsätzlich dieselben Meinung haben müssen, und verurteilst Sigmar, weil er mit Pegida-Anhängern diskutiert hat.

In Deinem großen Rundumschlag, Björn, kritisierst Du Phrasendrescherei und sprichst von einem „durchweg linken, sozialen, dennoch realistischen und vernünftigen Programm“ und von einem „sozialen Europa“, einer „gerechten Besteuerung“.

Was will ich damit sagen? Dass Du nicht sagen sollst, was Dich stört? Nein.
Lieber Björn, ich werfe jetzt auch einen Euro ins Phrasenschwein und rufe Dir zu: Gut gemeint ist nicht gut gemacht.
Lass mich Dir das erklären:

Du sprichst nicht für eine Mehrheit und schon gar nicht für die SPD. Sicherlich hast Du in letzten Tagen viel Zustimmung bekommen. Viele Leute werden Dir geschrieben haben, wie sehr Du ihnen aus der Seele sprichst. „Endlich sagt’s mal jemand!“ Aber gemessen an der Gesamtmitgliederzahl (nochmal: 460.000 Menschen!) sind das einfach gar nicht so viele. Auch wenn es sich anders anfühlt.
Abgesehen davon: Wer sind denn diese Leute, die Dir zustimmen? Wenn ich mir die Kommentare unter Deinem Beitrag anschaue, sind darunter überwältigend viele Menschen, deren Hass auf die SPD mit Sigmar Gabriel eigentlich nicht viel zu tun hat. Und Journalisten greifen Deinen Beitrag auf. Dabei fühlt man sich vermutlich toll, aber genau hier liegt auch der größte Schaden.
Der Presse ist egal, für wie viele Leute Du sprichst. Krawall und Remmidemmi macht sich immer gut, sie schreiben darüber und – zack – ist die SPD die bis aufs Blut zerstrittene Partei und Sigmar „Mr. Zickzack“. Das macht sehr viel kaputt und entspricht vor allem überhaupt nicht der Wirklichkeit.

Lieber Björn, Du bist unzufrieden. Pegida-Debatte, VDS und Sigmars Reaktion zum Greferendum findest Du doof. Sigmars Umgang mit TTIP findest Du gut. Hast Du Dir mal überlegt, dass es jede Menge Leute gibt, die es klasse fanden, dass Sigmar mit den Pegida-Demonstranten diskutiert hat, aber nur bei dem Namen TTIP schon Pickel kriegen? Weißt Du, dass es auch wahnsinnig viele SPD-Mitglieder gibt, die hinter der Vorratsdatenspeicherung stehen?

In der Politik gibt es kein Richtig und Falsch und in der SPD selten klare Mehrheiten. Nicht nur selten, sondern zuverlässig immer greifen daher Leute, die sich anmaßen für alle zu sprechen, ordentlich ins Klo.

Jetzt aber zum Entscheidenden: Was hat Dich geritten Sigmar als „Mr. Zickzack“ zu brandmarken?
Die Grünen wissen gerade nicht, ob sie Verbotspartei oder die neue FDP sein wollen, Horst Seehofer ändert sowieso im Minutentakt seine Meinung und Merkel hat inzwischen die Wehrpflicht und die Atomkraft abgeschafft und unseren Mindestlohn eingeführt. Wie kommst Du jetzt auf die Idee, dass Deutschland Sigmar Gabriel als „Mr. Zickzack“ sehen soll?
Natürlich macht man es sich mit so einem Vergleich einfach. Aber das Problem von Sigmar ist wirklich nicht, dass er seine Meinung zu oft ändert. Ich würde sogar so weit gehen, dass es sehr vielen Mitgliedern lieber wäre, er würde sie öfter ändern.

Mir geht es übrigens nicht so. Du schreibst: „Ich möchte niemanden als Kanzler haben, der seine Meinung im Gegensatz zu seiner Partei artikuliert.“ Dem will ich klar widersprechen. Und dem widersprichst übrigens auch Du, wenn Du von der SPD als „lebendigen Partei“ sprichst. Denn genauso wenig, wie die Partei ein Abnickverein ihres Vorsitzenden ist, ist der Vorsitzende ein Aufziehmännchen seiner Partei. Die Meinung, die sich durchsetzt, gewinnt. Punkt.

Dass Du in Erwägung ziehst, Merkel zu wählen – nicht wegen der Inhalte, sondern weil sie verlässlich ist – halte ich letztlich nur noch für peinlich. Ich könnte hoch ansetzen und sagen, dass das unwürdig für jedes Mitglied der Partei von Otto Wels ist. Ich messe Dich aber an Deinen eigenen Maßstäben und sage: Wer von anderen Mut, Weitsicht und klare Bekenntnisse verlangt und dann Merkel wählt – die unmutigste, unweitsichtigste und bekenntnisloseste Kanzlerin unserer Geschichte – den kann ich nicht ernst nehmen. Denn das ist wirklich Zickzack.

Es grüßt Dich

Robin Mesarosch


Edit:
P.S.: Ich finde es etwas schade, dass Du diesen Beitrag in Deiner 8.000-Leute-Facebookgruppe nicht freigibst, auf der Deine-SPD-Fanseite-löschst und Leute sperrst, die ihn posten. Sieht so Beteiligung für Dich aus?

„Wir haben ein Land gerettet!“ klingt besser als Gurkenkrümmungsverordnung

Deutschland hat im letzten Jahrhundert den schrecklichsten Krieg der Menschheitsgeschichte ausgelöst. Nach ganz Europa und weit darüber hinaus brachte die Wehrmacht Folter und Tod. Millionen Menschen starben qualvoll, weil ihnen die deutsche Staatsführung das Existenzrecht absprach. Familien wurden zerrissen, Menschen gebrochen und über Jahre hinweg Erschaffenes zerstört.
1945 war der Krieg vorbei und Deutschland zerstört.

Acht Jahre später wurden demselben Deutschland in demselben Europa mehr als die Hälfte seiner Schulden erlassen, der Rest in bezahlbaren Raten gestundet.
Das geschah, weil die Siegermächte die Einsicht hatten, dass die deutsche Wirtschaft einfach nicht mehr leisten können würde. Außerdem sollten die kommenden Generationen, die an all dem Leid keine Schuld trifft, nicht ewig unter dem menschlichen Versagen ihrer Vorfahren leiden.

Heute, 62 Jahre später, ist Griechenland wirtschaftlich zerstört. Das Land steht kurz vor der Pleite, ist besser gesagt seit Jahren pleite, wird aber noch künstlich am Leben gehalten.
Griechenland hatte zuvor nicht Europa in Schutt und Asche gelegt und Griechenland hat keinen systematischen Massenmord betrieben.
Griechenland hatte zu viele Beamte eingestellt, keine funktionierende Finanzverwaltung und noch einige andere Fehler gemacht. Also alles Dinge, die so aufregend sind, dass unsere Urenkel in 70 Jahren bestimmt bildgewaltige Actionfilme darüber im Kino sehen werden. Bruno Ganz als Andonis Samaras. Ganz heißer Stoff.

Aber im Ernst: In Griechenland leiden die Menschen. Es gibt viel zu wenige Arbeitsplätze, die medizinische Versorgung geht den Bach runter, die Selbstmordrate steigt.
Seit Jahren schon ist klar, dass die kosmetischen Hilfen der EZB, des IWF und der EU-Kommission nicht helfen. Europa ist sich der großen Worte nie zu schade, dass es Griechenland helfe. Aber was für eine Hilfe ist eine Hilfe, die nicht hilft?

Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Das ist eine Binsenweisheit. Der Schuldenerlass für Deutschland von 1953 hat aus dieser Weisheit aber bereits belastbares Wissen gemacht. Mit einer vergleichbaren Schuldnerkonferenz könnte Griechenland wirklich geholfen werden.

Nun geistert aber folgende Furcht dieser Tage umher: Wenn Griechenland seine Schulden erlassen bekommt, ist das nicht der Freifahrtschein für alle Nationen sich bis zum Kollaps zu verschulden, weil sie wissen, dass sie am Ende eh gerettet zu werden?
Das ist aus einem Grund falsch, aus einem zweiten irrelevant und aus einem dritten wäre ein dementsprechendes Handeln schädlich.

Erstens: Seit seiner Staatskrise hat Griechenland immens an Wohlstand eingebüßt. Die Menschen haben gespürt, wie sie an Lebensqualität verlieren. Die Regierung hat große Teile ihrer Souveränität, das heißt Macht, aufgegeben. Menschen wollen Lebensqualität, Regierungen wollen Macht. Dass in einer Demokratie die Regierungsparteien gezielt auf den Staatsbankrott hinarbeiten und die Wähler das nicht spätestens an der Urne abstrafen, ist im Grunde undenkbar.

Zweitens: Die EU ist in der Pflicht, Griechenland zu retten. Das kann man moralisch begründen, das kann man wirtschaftlich begründen, das kann man politisch begründen.
Insbesondere in Deutschland muss man sich doch fragen, was der Unterschied zwischen 1953 und 2015 sein soll, der dagegen spricht Griechenland – anders als das damals jüngst noch kriegstreiberische Deutschland – zu retten?
Man kann richtigerweise zu dem Schluss kommen: Deutschland hat hier eine historisch moralische Verantwortung. Doch das klingt immer nur gut, aber es versteht eigentlich keiner. Weil es abstrakt ist, weil der Stammtisch es immer wieder schafft, völlig haarsträubend Deutschland eine Opferrolle anzudichten. Moral ist kompliziert.
Man kann aber aus der Geschichte genauso gut ableiten, dass eine Rettung mit einem angemessenen Schulderlass wirtschaftlich funktioniert. Beispiel Deutschland. Man kann auch ableiten, dass eine Rettung politisch allen Beteiligten gut tut. Beispiel Deutschland und Europa.

Deutschland hat die Pflicht, Griechenland auch mit dem Verzicht eigener Forderungen zu retten. Nicht als Land, das sich einst schuldig gemacht hat, sondern als Land, das es am eigenen Beispiel besser wissen muss. Davon muss es als treibende Kraft in Europa auch die anderen und damals beteiligten Mitgliedsstaaten überzeugen.
Denn ginge Griechenland bankrott und stiege aus dem Euro aus, hätte das fatale Folgen für Land und Leute. Die wiedereingeführte Drachme würde stark abgewertet, was den Export der griechischen Wirtschaft zwar begünstigen, aber die Rückzahlung der Auslandsschulden auf Dauer unmöglich machen würde. Abgesehen davon hat das Land auch so gut wie keine Exportgüter. Das Leid in Griechenland würde nicht weniger, seine Notlage zementiert.
Obendrein kann man davon ausgehen, dass die griechischen Banken binnen kürzester Zeit insolvent wären, denn sie bekämen keine für sie lebenswichtigen ELA-Kredite der EZB mehr. Die Folgen: keine Kredite mehr für die Privatwirtschaft, das heißt weniger Produktivität, weniger Arbeitsplätze, weniger Kaufkraft, weniger Steueraufkommen,  Jugendarbeitslosigkeit, Zerfall der sozialen Sicherungssysteme, Inflation durch Aufwertung der Drachme und dadurch Vernichtung sämtlicher Sparvermögen, Perspektivlosigkeit. Kurz: Die Lebensqualität der Menschen würde dauerhaft sinken und die Wirtschaft hätte keine Möglichkeit mehr auf die Beine zu kommen. Das kann eine europäische Gemeinschaft nicht zulassen, was zum nächsten Punkt führt.

Drittens: Die EU ist in der Breite der Bevölkerung allmählich so beliebt wie Schnupfen. Es kommt hin und wieder mal vor, man stirbt nicht dran, aber es nervt.
Dass die EU eine Antwort auf furchtbare Kriege ist und sich mit der längsten Friedenszeit in Europa als überraschend gute Antwort entpuppt hat, haben viele vergessen. Die EU ist nicht mehr der Friedensbringer, sondern die Gurkenkrümmungsverordnung.

Hierzu eine radikale Idee: Was wäre, wenn ab dem Sommer 2015 alle Menschen sagen könnten, meine EU hat ein Land vor der Pleite und seine Menschen vor einer elendigen Misere gerettet?

Die EU und ihre Regierungschefs haben das in der Hand. Wenn man immer nur kommuniziert, wie man haarspalterisch und erbsenzählend den Griechen jeden Cent verwehrt, erntet man natürlich auch in der Bevölkerung keinen Jubel für eine Griechenlandrettung.
Dass Varoufakis schicke Klamotten trägt und Tsipras vermeintlich (!) schlecht verhandelt ist nicht nur völlig egal, sondern die Diskussion darüber auch schädlich. Kommunikativ schießen sich hier die Bundesregierung und die Institutionen selber ins Knie. Klar darf man nicht mit Steuergeld um sich schmeißen oder überhaupt den Anschein erwecken, das zu tun. Darum geht es aber auch gar nicht. Wir brauchen nur so sehr einen anderen Rahmen für die Debatte, eine Vision.

Ein Ausstieg Griechenlands aus dem Euro würde das ohnehin miese Bild der EU noch weiter verschlechtern. Der Eindruck, die EU kriege nichts gebacken, würde sich weiter erhärten. Was nicht effektiv ist, ist auch schnell nicht mehr legitim. Was nicht legitim ist, wird abgelehnt. Ende der EU.

Eine würdevolle Rettung Griechenlands kann dahingegen der schönste Gegenentwurf zur Gurkenkrümmungsverordnung werden. Etwas, das handelt, das Gutes bewirkt, darf auch etwas kosten. Davon muss man niemanden überzeugen. Man muss die Menschen nur wieder sehen lassen, dass gehandelt wird und dass etwas Gutes dabei herauskommt.
Tatsächlich leistet die EU wahnsinnig viel Gutes für das tägliche Leben aller Menschen in Europa. Das fängt bei der Friedenssicherung an, geht aber weiter bis zur Verbraucherschutzrichtlinie. Das Problem ist, dass letzteres und die meisten Leistungen der EU trotz ihrer Wichtigkeit sehr komplex und oft schwer greifbar sind. Was ist eine Verbraucherschutzrichtlinie?
Dafür braucht es die großen Bilder. Die Rettung Griechenlands kann ein solches Bild sein. Die EU kann Griechenland retten.

Mit großer Macht kommt große Verantwortung, hat Spiderman gesagt, und er ist nicht dafür bekannt, sich ausgiebig mit der Krümmung von Gurken beschäftigt zu haben. Tatsächlich macht die EU bereits so viel mehr als sich mit Gurken zu beschäftigten, aber: Sie ist nicht dafür bekannt.
Wenn die EU Verantwortung für Griechenland übernimmt, wird sie über Nacht nicht zum Superhelden. Aber wenn sie sich klug anstellt, macht sie einen großen Schritt nicht nur auf die Griechen, sondern auf alle Europäer zu.