Was wir aus der Burkadiskussion nicht lernen

Italiens Premierminister verkündet seine Vision für Europa – auf einem fucking Flugzeugträger! Und wir? Wir diskutieren über Stoff.

(Der folgende Text enthält zwölf Mal das Wort Diskussion, und sieben Mal das Wort Burka. Nur dass klar ist, wohin der Hase läuft)

Eigentlich sollte dieser Text überhaupt nicht geschrieben werden. Eine Diskussion für wertlos zu befinden um sich dann selbst mit Anlauf hineinzuwerfen klingt nicht unbedingt nach rationalem Handeln. Muss leider trotzdem getan werden. Seit beinahe zwei Wochen warte ich darauf, dass die sogenannte Burka-Diskussion für beendet erklärt wird. Zwei Wochen lang sah das anscheinend sonst kaum jemand so, denn inzwischen hat jeder relevante Kommentator dieses Thema, das irrelevanter nicht sein könnte, kommentiert. Wer es dennoch verpasst hat: Die Unionsinnenminister haben eine Erklärung zur inneren Sicherheit beschlossen, in der verschiedene Sicherheitsmaßnahmen diskutiert wurden, wohl vor allem, um die Bürger zu beruhigen. Das Gegenteil davon haben sie erreicht.

Anstatt dass nun aber die tatsächlich relevanten Inhalte des Papiers (Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft, Bundeswehreinsatz im Inneren) oder noch besser tatsächlich hilfreiche Maßnahmen gegen Radikalisierung und Terrorismus diskutiert werden, spricht seither jeder nur über die prominenteste, weil visuell und symbolisch fassbarste Idee der Innenminister: Das Verbot von Ganzkörper- und Gesichtsschleiern. Dabei handelt es sich um eine unglaublich unnötige und in jeder Hinsicht kontraproduktive Diskussion. Wenn Unionsinnenminster über innere Sicherheit diskutieren, hat es anscheinend die Qualität von dem, was ordenbehangene Generäle in amerikanischen Actionfilmen zur nationalen Sicherheit sagen: Mit Vernunft, Augenmaß oder überhaupt der Realität hat das selten zu tun.

Die Diskussion war von Beginn an unaufrichtig, denn sie wurde angestoßen im Wissen, dass ein solches Verbot verfassungsrechtlich gesehen keine Chance hat. Selbst wenn sich die Regierung darauf verständigen würde, spätestens in Karlsruhe ist Schluss. Das Grundgesetz verteidigt Grundrechte auch gegen das Abendland, ein Burkaverbot wird es nicht geben – und das muss es auch nicht. Auch Unionsinnenminister wissen, dass es eben nur eine Handvoll Burkaträgerinnen in Deutschland gibt. Und mit Terrorismus haben diese recht wenig zu tun.

Ebenso wenig haben Burka und Niqab mit „unseren Werten“ zu tun. Unsere Werte stehen und fallen nicht mit einem Kleidungsstück. Auch nicht, wenn es uns fremd oder unangenehm ist. Diese Werte stehen und fallen vielmehr mit unserem Umgang mit dem, was uns fremd und unangenehm ist. Ein Verbot aus persönlichen Empfindungen abzuleiten ist absurd. Wenn wir schon dabei sind: Ich kann Leute in Camouflage-Look nicht ernstnehmen, finde Alpha-Industries-Jacken und hochgekrempelte Chinos scheisse, und wer daraus die Notwendigkeit für Verbote ableiten möchte, darf dies gerne tun. Der vielleicht einzige schlaue Satz von De Maiziere in den vergangenen Wochen war: Man kann nicht alles verbieten, was einem nicht gefällt.

Ich persönlich bin auch gegen die Vollverschleierung – einfach weil sie meinem Empfinden nach Kommunikation unmöglich macht (und dies wohl auch ihre primäre Aufgabe ist). Selbst unbewusste, ungezielte, nonverbale Kommunikation, als das, was menschliches Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht, wird durch einen Gesichtsschleier von vornherein abgeblockt. Aber ich bin gerne bereit, das auszuhalten, wenn es die Garantie persönlicher Freiheiten bedeutet – so absurd mir diese auch erscheinen mögen.

Kommunikation  tauchte in der Diskussion allerdings erst ganz zum Schluss auf: Stattdessen wurde die meiste Zeit mit dem Kampfbegriff Integration suggeriert, dass Hotpants oder Bikinis die einzig zulässigen Indikatoren für unseren westlichen Wertekanon seien. Auf den armseligen Versuch ausgerechnet der Rechten, daraus eine feministische Sache zu machen, brauche ich gar nicht erst eingehen. Am Ende bleibt also der Stellvertreter-Effekt, der die Burka als Argument gegen den Islam ins Feld führt.

Diese Diskussion hilft niemandem weiter, stattdessen schadet sie enorm. Sie wirft erneut Begriffe, Symbole und Bilder durcheinander, führt zur Solidarisierung der Mal wieder in einen Topf geworfenen muslimischen Gruppen und letztlich zur Abschottung von einer als anti-muslimisch empfundenen Mehrheitsgesellschaft. Mal wieder wird das Islamverständnis der Bevölkerung auf Anfang gedreht – wie jedes Mal, wenn diese dumme Diskussion aufkommt. Mit jeder Schlagzeile, jedem Titelbild in den Zeitungen oder Teaserbild bei Tagesschau und Facebook: Eine nicht identifizierbare, gesichts- und formlose Figur, eingehüllt in schwarz oder blau, wird zum Symbolbild für den Islam in Deutschland. Das finden die vier Millionen Muslime in Deutschland bestimmt großartig.

Dabei kommen auf jede Irakerin, die ihren Niqab freiwillig und mit Überzeugung trägt, 10, 100, 1000 Irakerinnen, die hier unter uns leben und keinen Niqab tragen. Das heißt nicht, dass die Perspektive von Amina Hassan es nicht wert sei, gehört und nachvollzogen zu werden. Empathie hat noch nie geschadet! Aber es ist nicht die Perspektive der Mehrheit dieser Minderheit in Deutschland, die durch die überproportionale Beschäftigung mit dem Thema Vollverschleierung insgesamt in die Defensive gerät. Was hängen bleibt: „Du / deine Eltern / deine Großeltern kommst aus dem Irak? Weshalb bist du nicht verschleiert?“

Diese Diskussion hat eine ähnliche Qualität wie die von der AfD angestoßenen Scheindebatten des vergangenen Jahres, nur dass diesmal nicht die Provokations-Guerilla Gauland und Co. dahintersteckt, sondern eine Runde Unions-Innenminister, die kurz vor den Landtagswahlen das Lieblingsthema der AfD abziehen wollen. Der Kollateralschaden wird eben in Kauf genommen.

Und jetzt der große Bogen: Diese angeblich gesellschaftliche Diskussion war pure Zeitverschwendung, so wie auch eine Reihe anderer gesellschaftlicher Diskussionen der letzten Zeit. Ob man als Deutscher die Nationalhymne mitsingen muss (Nein), ob Bulgaren und Rumänen in unsere Sozialsysteme einfallen (Nein), ob der Islam zu Deutschland gehört (Ich verstehe die Frage nicht). Wir sind seit Jahren permanent auf der Suche nach Grenzen und Linien, nach Parametern, die definieren, wer wir sind, wer zu uns gehört, wie er/sie auszusehen hat und wem hier welcher Anteil am Gemeinwesen zusteht. Es ist eine ständige  Selbstbeschäftigungsmaßnahme, über die wir vergessen darüber nachzudenken, wer und wie wir gerne sein würden. Und über die wir auch die wirklich wichtigen Probleme der Gegenwart und der Zukunft vergessen.

Brexit? Spielt keine Rolle. Flüchtlinge? Nur im Zusammenhang mit Kriminalität oder Terrorismus interessant. Die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit in Deutschland? Eine Strategie oder Idee darüber, wie wir unser Zusammenleben in Zukunft gestalten wollen, in Deutschland und Europa? Existiert nicht und wird – wie man sieht – auch nicht erarbeitet. Stattdessen Stoff, der für ein paar Hundert Menschen in Deutschland existenziell, für alle anderen ohne Bedeutung ist. Beziehungsweise war, denn mit dieser erneuten langwierigen, oberflächlichen und inhärent ergebnislosen Diskussion hat sich das Bild Burka = Islam = Gefahr verfestigt.  Es ist richtig und wichtig, die Sorgen und Ängste der Bürger ernstzunehmen und ihnen aufrichtig zu begegnen. Die vermeintliche Bedrohung, die die Menschen in diesem Fall empfinden und auf die das Verbot angeblich nur reagiert, wird durch dieses Bild aber überhaupt erst erzeugt, vom unangenehmen Gefühl des Nicht-Kommunizieren-Könnens hin zur Angst vor einer Terroristin ist es ein weiter Weg – und wir haben ihn erfolgreich hinter uns gebracht. The damage is done. Und Matteo Renzi steht alleine auf seinem Flugzeugträger und muss sich fragen, was zur Hölle eigentlich mit uns los ist.