Deutschland hat im letzten Jahrhundert den schrecklichsten Krieg der Menschheitsgeschichte ausgelöst. Nach ganz Europa und weit darüber hinaus brachte die Wehrmacht Folter und Tod. Millionen Menschen starben qualvoll, weil ihnen die deutsche Staatsführung das Existenzrecht absprach. Familien wurden zerrissen, Menschen gebrochen und über Jahre hinweg Erschaffenes zerstört.
1945 war der Krieg vorbei und Deutschland zerstört.
Acht Jahre später wurden demselben Deutschland in demselben Europa mehr als die Hälfte seiner Schulden erlassen, der Rest in bezahlbaren Raten gestundet.
Das geschah, weil die Siegermächte die Einsicht hatten, dass die deutsche Wirtschaft einfach nicht mehr leisten können würde. Außerdem sollten die kommenden Generationen, die an all dem Leid keine Schuld trifft, nicht ewig unter dem menschlichen Versagen ihrer Vorfahren leiden.
Heute, 62 Jahre später, ist Griechenland wirtschaftlich zerstört. Das Land steht kurz vor der Pleite, ist besser gesagt seit Jahren pleite, wird aber noch künstlich am Leben gehalten.
Griechenland hatte zuvor nicht Europa in Schutt und Asche gelegt und Griechenland hat keinen systematischen Massenmord betrieben.
Griechenland hatte zu viele Beamte eingestellt, keine funktionierende Finanzverwaltung und noch einige andere Fehler gemacht. Also alles Dinge, die so aufregend sind, dass unsere Urenkel in 70 Jahren bestimmt bildgewaltige Actionfilme darüber im Kino sehen werden. Bruno Ganz als Andonis Samaras. Ganz heißer Stoff.
Aber im Ernst: In Griechenland leiden die Menschen. Es gibt viel zu wenige Arbeitsplätze, die medizinische Versorgung geht den Bach runter, die Selbstmordrate steigt.
Seit Jahren schon ist klar, dass die kosmetischen Hilfen der EZB, des IWF und der EU-Kommission nicht helfen. Europa ist sich der großen Worte nie zu schade, dass es Griechenland helfe. Aber was für eine Hilfe ist eine Hilfe, die nicht hilft?
Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Das ist eine Binsenweisheit. Der Schuldenerlass für Deutschland von 1953 hat aus dieser Weisheit aber bereits belastbares Wissen gemacht. Mit einer vergleichbaren Schuldnerkonferenz könnte Griechenland wirklich geholfen werden.
Nun geistert aber folgende Furcht dieser Tage umher: Wenn Griechenland seine Schulden erlassen bekommt, ist das nicht der Freifahrtschein für alle Nationen sich bis zum Kollaps zu verschulden, weil sie wissen, dass sie am Ende eh gerettet zu werden?
Das ist aus einem Grund falsch, aus einem zweiten irrelevant und aus einem dritten wäre ein dementsprechendes Handeln schädlich.
Erstens: Seit seiner Staatskrise hat Griechenland immens an Wohlstand eingebüßt. Die Menschen haben gespürt, wie sie an Lebensqualität verlieren. Die Regierung hat große Teile ihrer Souveränität, das heißt Macht, aufgegeben. Menschen wollen Lebensqualität, Regierungen wollen Macht. Dass in einer Demokratie die Regierungsparteien gezielt auf den Staatsbankrott hinarbeiten und die Wähler das nicht spätestens an der Urne abstrafen, ist im Grunde undenkbar.
Zweitens: Die EU ist in der Pflicht, Griechenland zu retten. Das kann man moralisch begründen, das kann man wirtschaftlich begründen, das kann man politisch begründen.
Insbesondere in Deutschland muss man sich doch fragen, was der Unterschied zwischen 1953 und 2015 sein soll, der dagegen spricht Griechenland – anders als das damals jüngst noch kriegstreiberische Deutschland – zu retten?
Man kann richtigerweise zu dem Schluss kommen: Deutschland hat hier eine historisch moralische Verantwortung. Doch das klingt immer nur gut, aber es versteht eigentlich keiner. Weil es abstrakt ist, weil der Stammtisch es immer wieder schafft, völlig haarsträubend Deutschland eine Opferrolle anzudichten. Moral ist kompliziert.
Man kann aber aus der Geschichte genauso gut ableiten, dass eine Rettung mit einem angemessenen Schulderlass wirtschaftlich funktioniert. Beispiel Deutschland. Man kann auch ableiten, dass eine Rettung politisch allen Beteiligten gut tut. Beispiel Deutschland und Europa.
Deutschland hat die Pflicht, Griechenland auch mit dem Verzicht eigener Forderungen zu retten. Nicht als Land, das sich einst schuldig gemacht hat, sondern als Land, das es am eigenen Beispiel besser wissen muss. Davon muss es als treibende Kraft in Europa auch die anderen und damals beteiligten Mitgliedsstaaten überzeugen.
Denn ginge Griechenland bankrott und stiege aus dem Euro aus, hätte das fatale Folgen für Land und Leute. Die wiedereingeführte Drachme würde stark abgewertet, was den Export der griechischen Wirtschaft zwar begünstigen, aber die Rückzahlung der Auslandsschulden auf Dauer unmöglich machen würde. Abgesehen davon hat das Land auch so gut wie keine Exportgüter. Das Leid in Griechenland würde nicht weniger, seine Notlage zementiert.
Obendrein kann man davon ausgehen, dass die griechischen Banken binnen kürzester Zeit insolvent wären, denn sie bekämen keine für sie lebenswichtigen ELA-Kredite der EZB mehr. Die Folgen: keine Kredite mehr für die Privatwirtschaft, das heißt weniger Produktivität, weniger Arbeitsplätze, weniger Kaufkraft, weniger Steueraufkommen, Jugendarbeitslosigkeit, Zerfall der sozialen Sicherungssysteme, Inflation durch Aufwertung der Drachme und dadurch Vernichtung sämtlicher Sparvermögen, Perspektivlosigkeit. Kurz: Die Lebensqualität der Menschen würde dauerhaft sinken und die Wirtschaft hätte keine Möglichkeit mehr auf die Beine zu kommen. Das kann eine europäische Gemeinschaft nicht zulassen, was zum nächsten Punkt führt.
Drittens: Die EU ist in der Breite der Bevölkerung allmählich so beliebt wie Schnupfen. Es kommt hin und wieder mal vor, man stirbt nicht dran, aber es nervt.
Dass die EU eine Antwort auf furchtbare Kriege ist und sich mit der längsten Friedenszeit in Europa als überraschend gute Antwort entpuppt hat, haben viele vergessen. Die EU ist nicht mehr der Friedensbringer, sondern die Gurkenkrümmungsverordnung.
Hierzu eine radikale Idee: Was wäre, wenn ab dem Sommer 2015 alle Menschen sagen könnten, meine EU hat ein Land vor der Pleite und seine Menschen vor einer elendigen Misere gerettet?
Die EU und ihre Regierungschefs haben das in der Hand. Wenn man immer nur kommuniziert, wie man haarspalterisch und erbsenzählend den Griechen jeden Cent verwehrt, erntet man natürlich auch in der Bevölkerung keinen Jubel für eine Griechenlandrettung.
Dass Varoufakis schicke Klamotten trägt und Tsipras vermeintlich (!) schlecht verhandelt ist nicht nur völlig egal, sondern die Diskussion darüber auch schädlich. Kommunikativ schießen sich hier die Bundesregierung und die Institutionen selber ins Knie. Klar darf man nicht mit Steuergeld um sich schmeißen oder überhaupt den Anschein erwecken, das zu tun. Darum geht es aber auch gar nicht. Wir brauchen nur so sehr einen anderen Rahmen für die Debatte, eine Vision.
Ein Ausstieg Griechenlands aus dem Euro würde das ohnehin miese Bild der EU noch weiter verschlechtern. Der Eindruck, die EU kriege nichts gebacken, würde sich weiter erhärten. Was nicht effektiv ist, ist auch schnell nicht mehr legitim. Was nicht legitim ist, wird abgelehnt. Ende der EU.
Eine würdevolle Rettung Griechenlands kann dahingegen der schönste Gegenentwurf zur Gurkenkrümmungsverordnung werden. Etwas, das handelt, das Gutes bewirkt, darf auch etwas kosten. Davon muss man niemanden überzeugen. Man muss die Menschen nur wieder sehen lassen, dass gehandelt wird und dass etwas Gutes dabei herauskommt.
Tatsächlich leistet die EU wahnsinnig viel Gutes für das tägliche Leben aller Menschen in Europa. Das fängt bei der Friedenssicherung an, geht aber weiter bis zur Verbraucherschutzrichtlinie. Das Problem ist, dass letzteres und die meisten Leistungen der EU trotz ihrer Wichtigkeit sehr komplex und oft schwer greifbar sind. Was ist eine Verbraucherschutzrichtlinie?
Dafür braucht es die großen Bilder. Die Rettung Griechenlands kann ein solches Bild sein. Die EU kann Griechenland retten.
Mit großer Macht kommt große Verantwortung, hat Spiderman gesagt, und er ist nicht dafür bekannt, sich ausgiebig mit der Krümmung von Gurken beschäftigt zu haben. Tatsächlich macht die EU bereits so viel mehr als sich mit Gurken zu beschäftigten, aber: Sie ist nicht dafür bekannt.
Wenn die EU Verantwortung für Griechenland übernimmt, wird sie über Nacht nicht zum Superhelden. Aber wenn sie sich klug anstellt, macht sie einen großen Schritt nicht nur auf die Griechen, sondern auf alle Europäer zu.